
Erinnerungen von Ossip Brik
Chlebnikow und ich fuhren Straßenbahn, saßen uns gegenüber. Chlebnikow trug einen weiten Pelzmantel mit Pelzkragen, Schal und Pelzmütze. Er hatte sich ein wenig zurückgelehnt, die Augen fast geschlossen und preßte die Lippen aufeinander. »Vitja! Du siehst gerade aus wie ein Altgläubiger« , sagte ich. Augenblicklich, ohne zu zögern fragte Chlebnikow: »Was für einer? « Ich war verwirrt. »Ich weiß nicht, einfach nur eine Art Altgläubiger.« »Ich frage, weil Altgläubige Bärte tragen, ich aber glattrasiert bin.« Zu Hause bei jemandem, wahrscheinlich bei Kulbin, unterhielten wir uns über die Verfälschung der russischen Sprache durch Flüchtlinge. Das war während des Krieges in Petersburg. Schklowski redete über die Kiewer, die – wie er meinte – ihr Provinzlertum ins Russische einbrachten. Wenn Chlebnikow wütend wurde, schrie er immer in einem hohen Tenor. Er krähte wie ein Hahn: »Provinz kommt vom lateinischen >pro< und >vincere<, das heißt siegen. Eine Provinz ist ein besiegtes Land. In Bezug auf Rußland ist Petersburg die Provinz und nicht Kiew. « Für Chlebnikow waren die Worte »Altgläubiger« und »Provinz« keine konventionellen Bezeichnungen, die etwas »Ungefähres« bedeuten. Für ihn war jedes Wort voller Bedeutung und Resonanzen, mit all seinen arteigenen Ähnlichkeiten und Unterschieden, mit seinen Synonymen und Homonymen. Für die meisten Menschen sind Wörter zufällige Lautkombinationen, und die Menschen haben es traditionsgemäß akzeptiert, ihnen diesen oder jenen Sinn zu geben. Über diese akzeptierte Konvention hinaus unterscheiden sich vorgegebene Lautkombinationen in keiner Weise von »sinnlosen« . So ist es, wenn Menschen mit Spielmarken Karten spielen; und als Spielmarken benutzen sie traditionsgemäß irgendeinen Gegenstand: Streichhölzer, Nüsse, Knöpfe. Streichhölzer, die sich anzünden lassen und Streichhölzer, die »im Spiel sind« ; Nüsse, die gegessen werden, und Nüsse, die »wie Geld gebraucht werden« ; Knöpfe, die an Kleidung genäht werden, und Knöpfe, die gegen Streichhölzer und Nüsse getauscht werden können.
Was geschah, als ich Chlebnikow sagte, er sähe aus wie ein Altgläubiger? Chlebnikow erinnerte mich vage an gewisse Bilder, die ich irgendwo von gewissen alten russischen Menschen gesehen hatte; und ich bezeichnete ungefähr den Bereich dessen, was ich gesehen und woran ich mich erinnert hatte, mit dem Wort »Altgläubiger« . Für Chlebnikow jedoch hatte das Wort Altgläubiger keine »ungefähre« Bedeutung, sondern eine weite, mannigfaltige, die die Vorstellung »Bart« zweifellos mit einschloß. Des halb erfaßte das Wort »Altgläubiger«, das ich verwandt hatte, keineswegs das zu kennzeichnende Phänomen – den bartlosen Chlebnikow. Außerdem – und das ist das wichtige -, um die Realität zu erfassen, die dieses Wort nicht kennzeichnete, war es notwendig, sich des Bartes nicht nur innerhalb des Vorstellungsbereichs »Altgläubiger« zu erinnern, sondern auch im Zusammenhang mit dem »bartlosen« Mann, den wir mit diesem Wort zu kennzeichnen versuchten. Chlebnikow kannte nicht nur die Bedeutung des Wortes »Provinz« , sondern auch die Bedeutung von Petersburg und Kiew.
Chlebnikow war ein Mann mit umfassendem Wissen und einem scharfen Sinn für Realitäten. Welch ein Unsinn zu sagen, Chlebnikow sei nicht von dieser Welt! Er kannte und erkannte diese Welt in all ihren Subtilitäten, all den Nuancen ihres historischen Schicksals und der menschlichen Psyche. Lesen Sie ihn aufmerksam, und Sie werden in seinen Gedichten, seiner Prosa und seinen Briefen Millionen außerordentlich subtile, außerordentlich treffende, wahre Beobachtungen und Details entdecken – eines Menschen, der sehr wohl »von dieser Welt« ist.
Wenn Chlebnikow Worte »machte«, so machte er sie, um ein neugeschaffenes Phänomen oder eine neuentdeckte Variante eines Phänomens zu benennen. Chlebnikow war nie ein Ästhet des Wortes. Er benutzte nie ein Wort außerhalb des Tatbestandes oder des Objektes, das dieses kennzeichnen sollte. Als Chlebnikow sein »smech smejuschi« (»Verschwörung durch Gelächter«) schrieb, war er davon überzeugt, daß jedes der darin enthaltenen Worte seinen Platz in der Vielfalt des realen Bereichs »Lachen« finden werde.
Krutschonych pflegte zu sagen: »Das Wort >Lilie< ist zu oft gebraucht worden, es hat sich verbraucht; ich sage Euy und die ursprüngliche Reinheit des Wortes ist wiederhergestellt. « Das ist Ästhetizismus. Kein neues Phänomen, kein Aspekt eines neuen Phänomens entspricht diesem neuen Wort. Die Lilie ändert lediglich ihren Namen. Sie antwortet auf »Lilie« und wird auch auf Euy antworten. Das war Chlebnikow nicht genug. Er vermittelte mit einem neuen Wort auch eine neue Realität. Darum ging es ihm.
Und das Wichtigste ist, daß Chlebnikow nie etwas »erfand« . Er entdeckte. Der Erfinder schafft etwas, was nicht existierte. Der Entdecker gibt uns etwas, was schon immer existiert hat. Deshalb kann es sein, daß Erfindungen nie Realität werden; sie können sich als Totgeburten erweisen. Aber Entdeckungen – sie haben immer existiert. Die Frage nach der Möglichkeit ihrer Existenz stellt sich nie. Elektrizität wurde entdeckt. Die Glühbirne wurde erfunden – Genies entdecken, Menschen mit Talent erfinden. Chlebnikow erfand keine Wörter. Er zeigte uns Aspekte der Sprache, deren Existenz wir nicht einmal vermuteten. Kirasanow nimmt zwei Wörter und macht aus ihnen ein drittes. Dieses dritte Wort entspricht aber keiner »dritten« Realität. »Ich lieberitus« (Ljubljutiki): Ist das eine neue Art von »Butterblume« (ljutiki) oder eine neue Art der Liebe (ljubow)? Weder das eine noch das andere; es ist ein »Kunstwerk« , ein objet d’art.
Nun werden Sie sagen, was ist denn das Wort »als solches«? Besonders, »als solches« . Das Wort muß unbedingt einer realen Sache entsprechen, ansonsten ist es »gar nichts« . Von einer Sprache in eine andere zu übersetzen bedeutet nicht, Wörter von einer Sprache in eine andere zu setzen. Es bedeutet, mit Worten der eigenen Sprache die Realität wiederzugeben, die in den Worten der Sprache des Ausländers übermittelt werden. Um gut zu übersetzen, muß man nicht nur Sprachen kennen, sondern vor allen Dingen die Realität, die behandelt wird. Wie gut auch die Sprachkenntnisse eines Menschen sein mögen, er wird nicht fähig sein, einen Roman, sagen wir mal, über das Leben der Neger zu übersetzen, wenn er nichts von Negern und ihrem Leben weiß. Die meisten Patzer und Kuriositäten, mit denen Übersetzungen gespickt sind, beruhen nicht auf einer Unkenntnis der Sprache, sondern auf einer Unkenntnis des behandelten Themas.
Nebenbei bemerkt, »ein griechisches Wort ohne Bedeutung« ist ein Streichholz, das keine Spielmarke wurde. Aber es ist selbstverständlich kein »Wort« . Ein Wort kann nicht ohne Bedeutung sein. »Jenseits des Verstandes« – »zaum« – ist nicht »Sprache jenseits des Verstandes« , sondern exakte, nicht-sprachliche Kombination bestimmter, von den menschlichen Sprechorganen erzeugter Laute »jenseits der Verstandes« .
In dem Moment jedoch, in dem eine zaum-Lautkombination eine eigene Realität findet, wird es ein Wort. Dies war der Fall bei dem Wort »chlysch« .Und umgekehrt: Wenn für eine neue Realität ein Kunstwort geschaffen wird, indem semantische Teile miteinander kombiniert werden – alle unsere sowjetischen Wörter sind solche Stammzusammensetzungen -, dann werden nur jene Wörter von Bestand sein, die den Charakter einer Konstruktion überwinden und ein integrales Lautbild mit eigener Bedeutung bilden; z. B. narkom, komsomolets, politruk waren hastig zusammengeklebte Wortfetzen. Sie wurden zu eigenständigen Wörtern. In Majakowskis Gedicht »Proeto« (»Darüber« ) gibt es einen erstaunlichen Neologismus. Das Thema Liebe klingt anhaltend wie ein Orgelton. Das Thema einer Reise in den Norden taucht auf: »Be gut berega – za vidom vid« (»Die Ufer rasen vorbei – Aussicht jenseits der Sicht»); und später: »Schto za zemlja? Kakoj eto kraj? Gren lap ljublandija?« (»Was für ein Land? Welches Reich ist dies? Gren – Lap – Lieb-Land?« ) Für einen Augenblick überschneiden sich zwei Themen: das Thema Liebe und das Thema Reise. Und das Wort »ljublan dija« sprüht hervor wie ein Funken. Ja, ein Wort! Denn die realste aller Realitäten wird mit ihm bezeichnet: das Unbekannte des ganzen Gedichtes, seine letztliche Bedeutung.
Es wäre jedoch sehr vulgär, das Wort »ljub-landija« aus dem Kontext des Gedichtes heraus- und in ein russisches Wörterbuch aufzunehmen. »Ljub-landija« – das Land der Liebe. Warum vulgär? Weil die mit dem Wort »ljub-landija« bezeichnete Realität einzigartig und nicht wiederholbar ist; es existierte nur in ihm, Majakowski, in dem Moment, als er es schuf. Man kann es nicht verallgemeinern. Dieses Wort, das für einen Augenblick aufflackerte und diese Realität illuminierte, kann nicht zu einem geläufigen, gewöhnlichen Wort gemacht werden. »Ljub-landija« ist nicht das Reich der Liebe.
Bei Majakowski finden wir viele solcher einzigartigen poetischen Funken und Explosionen. Er ist ein lyrischer Poet, und seine Lyrik ist autobiographisch. Die Geschichte seiner Epoche ist auch Teil seiner Autobiographie. »Es geschah mit den kämpfenden Männern oder dem Land, oder es geschah in meinem Herzen.« Dies ist eine Variante der bekannten Formel des großen Lyrikers Heinrich Heine.
Chlebnikow war jedoch völlig anders. Er war keineswegs ein lyrischer Poet. Das soll nicht heißen, daß Chlebnikow nicht lyrisch war, also trocken, verknöchert oder herzlos; er war jähzornig und auch leicht zu amüsieren; er war oft recht traurig; jedoch hätte er nie daran gedacht, über seine Gefühle zu schreiben. Er war verschwiegen und scheu. Außerdem hatte er dem Wort gegenüber eine andere Einstellung. Für ihn war das Wort kein »Ausdrucksmittel«, kein Diener des Denkens und Fühlens. Für Chlebnikow lebte das Wort sein eigenes Leben, reich an Resonanzen und Bedeutungen. Er warf Worte wie Sterne auf Papier und prophezeite durch sie das Schicksal der Menschen und der Menschheit.
Was ist die Bedeutung der Wörter? Nicht das, was sie bedeuten, sondern das, was sie bedeuten können. »Die volle Bedeutung des Wortes«: Was ist diese »volle Bedeutung des Wortes«? Es ist die ganze unendliche Vielfalt der existierenden und möglichen Bedeutungen des Wortes. Und das Wort im Alltag, bei alltäglichen, menschlichen Angelegenheiten – das ist das Wort in seiner »vollständigen Bedeutung«, das Wort, von dessen Bedeutung nur ein unbedeutender Teil zählt, der Teil, der in der Praxis zum »Austausch« und »Ausdruck« notwendig ist.
Chlebnikow ging jedoch von der »vollen Bedeutung« der Worte aus. Seine Worte, voll bis zum Rand, stehen neben einander, ohne zu verschmelzen, ohne übereinzustimmen; wie die Welten der Sterne existieren sie nach den Gesetzen der Anziehungs- und Fliehkraft. Bei Chlebnikow gibt es keine Wortkombinationen, sondern Wortkonstellationen. Chlebnikow ist ein Sternzähler-Poet (poetzvezdochet).
»Sterne, Vorhersage durch Sterne, Sternenzähler« – all dies ist »bildhaft« und vage, meine ich. Aber das ist Chlebnikow. Die Sterne, ihr Leben, ihr System, die Gesetze ihrer Bewegungen bilden zweifellos das Muster des schöpferischen Systems Chlebnikows. Er sprach viel über Sterne:
»Die Sterne des Südens ließen in mir den Chaldäer erstehen.« (»Lehrer und Schüler«)
»…schreibe die Tage und Stunden der Gefühle als bewegten sie sich wie Sterne…« (Brief an Kamenski)
»Ich habe Gleichungen für die Sterne, Gleichungen für die Stimme, Gleichungen für eine Idee, Gleichungen für Geburt und Tod.« (Brief an W. W. Chlebnikowa)
An diesem Punkt wäre es passend, von Chlebnikows mathematischen Berechnungen zu sprechen. Aber ich möchte noch ein wenig über den Poeten Chlebnikow reden. Für Chlebnikow ist »die volle Bedeutung des Wortes« nicht nur in allen Bedeutungen des Wortes, sondern auch in seinen Resonanzen, denn jede Resonanz ist für ihn voller Bedeutung. Jeder Laut der menschlichen Sprache ist verständlich. Chlebnikow schuf semantische Wortkonstellationen aus M, W, S, K, die »sachliche« Menschen belächeln.
Worüber lächeln diese »sachlichen« Menschen? Und warum sollten sie nicht lächeln, wenn Chlebnikow sie auf die naivste Weise hinters Licht führen will? Chlebnikow schreibt: »Mit K beginnen entweder Wörter über den Tod – kolot [erstechen], koika [Krankenhausbett], konjets [Ende], kukla [Puppe] – oder Wörter über Freiheitsentzug – kovat [schmieden], kusnez [Schmiede], koltzo [Ring], kljutsch [Schlüssel], krug [Kreis] – oder Wörter, die unbewegliche Dinge bezeichnen – klad [Ladung, Gepäck], ko loda [Holzklotz], kamen [Stein], kot [Katze].« Ha, ha, ha! Und kisel [Gelatine] und kuritsa [Huhn]? Und kolbasa [Würstchen]?
Was ist damit? Sagen sie etwas über den Tod oder über Freiheitsentzug? Sind es unbewegliche Dinge? Geh, versuch‘ nicht, mich zum Narren zu halten! Aber die »sachlichen« Menschen lachen umsonst. Warum sollte Chlebnikow sich mit Wörtern abgeben, die nicht Teil der Konstellation sind? Warum sollte sich ein Poet mit Wörtern abgeben, die sich nicht reimen? Seine reimen sich! Ist es Chlebnikows Sache, daß er nicht alle Wörter mit K ein bezog? Aber wer braucht das, diese mühevolle Einteilung der Wörter mit K entsprechend ihrer Bedeutung? Was ist das, woran Chlebnikow da gearbeitet hat? Idioten! Chlebnikow ist kein Listenführer der Wörter – er ist ein Poet.
Chlebnikow reimte Wörter entsprechend ihrem Klang und ihrer Bedeutung. Er schrieb Gedichte aus K, M, S, W, die reine Poesie, Poesie von großem Können, in der Worte nicht nach den Syllogismen des sachlichen Sprechens kombiniert werden, sondern frei, in sich schlüssig, entsprechend der ihnen eigenen Gesetze »des Wortes an sich«. Ein höchst bemerkenswertes Buch ist das Wörterbuch, das Buch der Sprache.In ihm ist nicht nur all das enthalten, was gesagt wurde und das, was gesagt werden wird, sondern auch das, was gesagt werden kann.Sie brauchen es nicht; für sie ist es nutzlos! Die armen »sachlichen« Menschen: Sie werden Chlebnikow nie lesen.
zitiert aus: "Sieg über die Sonne - Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts"; Akademie der Künste, Berlin, 1983
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